MEDIA: 20 Minuten – «Es ist normal, dass die Behörden nicht reagieren»
Das folgende Experteninterview wurde in der Onlineausgabe (August 2023) im 20 Minuten publiziert. Online findet man den Originalartikel und das Interview hier.
«Es ist normal, dass die Behörden nicht reagieren»
Von Anja Zobrist
Liska Bernet von Glocal Roots lebt seit acht Jahren an der EU-Aussengrenze und kennt die Situation in Griechenland vor Ort. Dass die Küstenwache lange nicht handelte, überrascht sie nicht.
Eine Leserin hat rund 300 Anrufe getätigt, bevor ihr überhaupt zugehört wurde. Wie kann das sein?
Das ist relativ normal. Es kommt oft vor, dass die Behörden nicht reagieren. Begonnen hat das zeitgleich mit den Pushbacks, also damit, dass die Flüchtenden auf ihrer Reise wieder zurückgedrängt werden, damit sie keinen Asylantrag stellen können. Das war etwa 2020. Die Mehrheit der Flüchtenden erlebt rund sechs bis sieben Pusbacks, bis sie es auf das Festland in eine Notunterkunft schaffen. Viele werden eingesammelt und wieder zurück in türkische Gewässer gebracht.
Was machen die NGOs?
Früher gab es in Griechenland noch NGOs, die selbst Seenotrettungen betrieben. Das ist heute aber unmöglich – es wurde von den Behörden kriminalisiert. Eine staatliche koordinierte Seenotrettung gibt es in Europa nicht. Wenn die NGOs einen Alarm erhalten, fragen sie zuerst die Personen auf dem Boot, ob sie wollen, dass die Küstenwache informiert wird. Denn es besteht die Gefahr, dass es zum Pushback kommt.
Was passiert, wenn sie ihr Einverständnis geben?
Dann wird die Küstenwache informiert. Es kann sein, dass sie gar nicht ausfährt, die Rettung verzögert, oder die Boote fahren aufs Meer – und einige Stunden später einfach wieder zurück in den Hafen. In einzelnen Fällen werden die Flüchtenden gerettet und dann nach Griechenland gebracht, wo sie ein Asylgesuch stellen können. Seit dem Schiffsunglück Mitte Juni, bei dem Hunderte ums Leben kamen, gelangen viel mehr Menschen auf die Insel. Grund dafür ist die mediale Aufmerksamkeit – die Behörden mussten unter dem Druck der Öffentlichkeit handeln. Sie können sich so ein Unglück nicht mehr leisten. Deshalb posten oft die NGOs direkt alle Meldungen auf Social Media. So zwingen sie die Küstenwache zum Handeln.
Wie ist die aktuelle Situation vor Ort?
Die Zahl der Flüchtenden auf den Inseln ist in den letzten Wochen stark angestiegen. Auf der Insel Kos hat sich die Anzahl gar mehr als verdoppelt – vorher waren es rund 500 Personen, heute sind es über 1300. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Situation in den Notunterkünften.
Wie ist die Situation in den Auffangzentren?
Die Situationen in den Zentren sind natürlich nie schön – es ist wie in einem Sicherheitsgefängnis. Die Zentren sind mit doppeltem Stacheldraht eingezäunt, Fingerabdrücke werden genommen, man muss sich ein- und ausscannen und alles ist videoüberwacht. Die Zentren sind besser geschützt als Guantanamo.
Wie lange dauert der Prozess der Asylverfahren?
Kommt darauf an, wie viele Asylgesuche es gibt und wie viel Personal vor Ort ist, um die Gesuche zu bearbeiten. Im besten Fall einen Monat, momentan bis zu fünf Monate.
Liska Bernet aus Zürich ist Mitgründerin der gemeinnützigen Organisation Glocal Roots. In Griechenland und der Schweiz entwickelt sie Projekte mit dem Ziel, die Unabhängigkeit von Menschen mit Fluchthintergrund zu stärken. Bernet lebt seit acht Jahren an der EU-Aussengrenze.
Anja Zobrist
Journalistin bei 20 Minuten