MEDIA: Tsri.ch – «Was auf der Welt passiert, spürt man auch in Zürich»
Der folgende Beitrag wurde auf tsri.ch im Mai publiziert. Er ist Teil des Fokusmonats Migration auf tsri.ch
Lara Blatter, Co-Geschäftsleitung & Redaktorin
Migrationsexpertin: «Was auf der Welt passiert, spürt man auch in Zürich»
Jedes Jahr sterben tausende Menschen auf der Flucht im Mittelmeer. Inwiefern das auch Zürich betrifft und warum keine Grenzen nicht die Lösung ist, erklärt die Migrationsexpertin und Aktivistin Liska Bernet.
Lara Blatter: Wie viel Migration verträgt eine Gesellschaft?
Liska Bernet: Die Welt verträgt so viel Migration, wie nötig. Migration gehört zur Menschheit. Seit es uns gibt, migrieren wir, um zu überleben – und daran ist nichts verwerflich. Auch wenn das Narrativ rund um Migration negativ behaftet ist.
Wenn Migration schon immer zur Menschheit gehörte, wie hat sich das historisch verändert – wann wurde Fluchtmigration zum Politikum?
Seit es moderne Nationalstaaten mit klaren Landesgrenzen gibt, wie wir sie heute kennen. Schaut man sich die Geschichte der Menschheit an, dann ist das ein kurzer Abschnitt: Seit etwa 200 Jahren gibt es überhaupt klare Landesgrenzen. Doch die Stimmung gegenüber Migrant:innen hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Abschreckung, Abschottung und Auslagerung sind Teil der politischen Agenda.
Einige sehen die Migration als grosse Gefahr. Weshalb?
Gerade in Europa stehen wir vor vielen Herausforderungen. Aufgrund von Kriegen, Ungleichheit und Klimaerhitzung gibt es immer mehr Migration. Das löst eine Gegenwehr aus: Die Politik ist repressiver geworden und der Grenzschutz wurde massiv ausgebaut.
Seit über zehn Jahren sind Sie in Griechenland und der Türkei an den EU-Aussengrenzen unterwegs. Was haben Sie daraus gelernt?
Sowohl die Menschen, die flüchten, als auch jene, die humanitäre Hilfe leisten, werden kriminalisiert. Für Migrant:innen wird es immer prekärer und für Helfende ebenso. Die EU-Aussengrenzen werden immer tödlicher, vor allem, weil Menschen aufgrund des massive ausgebauten Grenzschutzes immer gefährlichere Fluchtrouten wählen müssen. Jahr für Jahr sterben Tausende im Mittelmeer, Menschen werden mit Zäunen zurückgehalten und ihre Rechte systematisch missachtet. Das ernüchtert mich. Aber ich weiss durch meine Arbeit, dass es gerade in diesen Zeiten Widerstand und Solidarität braucht.
Aktuell scheint die Aufmerksamkeit der Medien und Gesellschaft anderen Krisen und Kriegen zu gelten.
Klar, das spüren wir. Der Krieg in Gaza oder gegen die Ukraine beschäftigen die Medien aktuell mehr als beispielsweise die Zustände auf den griechischen Inseln. Weniger Solidarität führt zu weniger Helfer:innen und auch weniger Geld für Projekte. Aber es kommen nach wie vor viele Menschen. Und die Lage in Griechenland ist nicht gut: Die Schutzsuchenden bekommen keine Unterstützung vom griechischen Staat, viele leben auf Strasse, haben kein Geld und Frauen landen oft in der Zwangsprostitution. Auch wenn das alles für uns weit weg ist. Was auf der Welt passiert, spürt man früher oder später auch in Zürich.
«Integration ist eine Investition in die Gesellschaft und nicht einfach nur Gutmenschentum.»
Liska Bernet
Inwiefern?
Menschen flüchten aufgrund von Krieg und Armut in die Türkei, dort können sie aber wegen mangelnder Rechte und Möglichkeiten kein Leben aufbauen. Eine Naturkatastrophe, wie beispielsweise das Erdbeben im letzten Jahr, sowie steigende Inflation verunmöglichen das Überleben. Jene, die können, gehen weiter nach Griechenland. Auch dort erhalten sie nicht die Unterstützung, die sie bräuchten. Sie werden also weiterziehen, sobald sie können. Diese Zusammenhänge zu sehen und anzugehen, ist wichtig. Unser jetziges System hier in Europa ist ein menschliches Pingpong – die Menschen werden von Land zu Land getrieben, illegalisiert und haben keine Perspektive. Dabei geht viel menschliches Potenzial verloren: Kinder können nicht in die Schule und Erwachsene können ihren Beruf nicht mehr ausüben.
Was könnten wir tun, um dies zu ändern?
Das Wichtigste und Nachhaltigste, was wir machen können, ist, in Integration zu investieren. Ganz egal, wo auf der Welt. Integration ist eine Investition in die Gesellschaft und nicht einfach nur Gutmenschentum.
Das sehen längst nicht alle so. Integration kostet viel. Dass Integration Geld kostet, ist klar. Aber langfristig zahlen wir als Gesellschaft einen höheren Preis, wenn Zugezogene keine gleichberechtigte Teilhabe am wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Leben haben. Nicht nur ökonomisch gesehen, sondern auch menschlich. Menschen entfalten sich, wenn sie einbezogen werden und über soziale Kontakte verfügen.
Liska Bernet |
Liska Bernet ist Mit-Gründerin von «Glocal Roots». Der gemeinnützige Verein hat verschiedene Projekte in Griechenland, entlang der Balkanroute sowie in der Schweiz realisiert. Ihr Ziel: Sie wollen auf Augenhöhe mit den geflüchteten Menschen arbeiten. Die 34-Jährige studierte Politikwissenschaften an der Universität Zürich und Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Nothilfe in London. Seit der grossen Fluchtbewegung ist Bernet regelmässig an den EU-Aussengrenzen unterwegs. Heute lebt die Zürcherin in Griechenland. |
Gerade kürzlich wurden etwa Zustände in einer Unterkunft für Minderjährige der Asylorganisation Zürich bemängelt oder eine Recherche von Correctiv zeigte auf, wie das Potenzial von gut ausgebildeten geflüchteten Menschen nicht genutzt wird. Zürich wäre eine linke Stadt mit vielen finanziellen Mitteln. Scheitert es am Willen oder ist Integration doch schwieriger, als man denkt?
Bei unseren Arbeitsintegrationsprojekten merken wir, dass viele Gemeinden überfordert sind, mit der Aufnahme von geflüchteten Menschen. Integration und Migration sind vielschichtig und herausfordernd. Der Wohnraum ist knapp und sprachliche Barrieren müssen überwunden werden. Doch wohin die Gelder fliessen, ist ein politisches Thema. Selbst in der linken Politik ist es nicht Konsens, und an welchem Punkt sie ansetzen soll.
Berührungspunkte mit Betroffenen sind rar und oft begegnen wir geflüchteten Menschen mit Vorurteilen. Nach über 10 Jahre im Migrationsbereich, haben Sie es geschafft Ihre Vorurteile abzubauen?
Nein. Vorurteile sind menschlich. Menschen in Schubladen zu stecken, macht die Welt für uns greifbar. Wichtig ist, dass wir sie erkennen und dass sie nicht unser Verhalten bestimmen. Wir müssen widersprechen, wenn in unserem Umfeld jemand andere Menschen verletzt, ganze Gruppen beleidigt oder versucht, sie aufgrund eines Vorurteils in eine bestimmte Ecke zu stellen. Indem wir Vorurteile bekämpfen, bekämpfen wir auch unsere Angst gegenüber dem «Anderen» und so schlussendlich Rassismus.
Wie können Vorurteile abgebaut werden?
Indem wir Beziehungen schaffen. Unser jetziges System trennt hier geborene Menschen von Zugezogenen. Mit unserem Verein Glocal Roots organisieren wir darum in Zürich einen «Wanderznacht» und bringen Menschen zusammen – egal, ob mit oder ohne Migrationsgeschichte. Du hörst ihre Geschichten und lernst den Menschen als Menschen kennen. Das hat auch schon die Sichtweise von bürgerlichen Teilnehmenden verändert.
Zürcher:innen sind nicht gerade bekannt für ihre Offenheit gegenüber neuen Menschen.
Ja, das hören wir oft. Es sei schwer, mit «Locals» in Kontakt zu kommen. In anderen Kulturen spricht man eher mit dem Marktverkäufer oder quatscht seine Busnachbarin an und so entstehen Freundschaften. Das passiert hier selten, das ist nicht unsere Kultur – daran ist nichts falsch. Aber wir müssen uns dem bewusst sein, denn andere Kulturen verstehen unsere teilweise abweisende Haltung nicht. Darum müssen wir Brücken schaffen und das gegenseitige Verständnis fördern.
Solche Ansätze funktionieren auf privater Ebene. Aber gibt es überhaupt eine Möglichkeit, Migration auf gerechte Art und Weise zu kontrollieren?
Darauf habe ich keine Antwort. Es gibt Ansätze, wie man es gerechter machen könnte. An den europäischen Aussengrenzen werden Menschenrechte von den Behörden mit Füssen getreten. Das Recht von Schutzsuchenden wird ausgehöhlt und täglich massiv verletzt. Da müsste man ansetzen: Unser Rechtssystem auf alle Menschen anwenden.
«Unser Status Quo zwingt viele Menschen zur Flucht.»
Liska Bernet
Wie wäre es, wenn wir keine Regelungen hätten?
Ich weiss es nicht. Mein Gefühl sagt mir, es wäre besser. Die Frage müsste aber eher lauten: Wie es wäre, hätten wir keine Ungerechtigkeiten auf der Welt? Denn solange es Ausbeutung gibt, ist die Forderung «No Borders», also keine Grenzen, leider utopisch.
Weshalb?
Unser System beruht darauf, dass der Reichtum der einen auf systembedingter Armut anderer existiert. Solange das so ist, ist es unwahrscheinlich, dass wir uns zu einer «No Border» Welt hinbewegen können. Es gibt zu viele Orte auf der Welt, wo es unmöglich ist, ein Leben in Würde zu leben. Unser Status Quo zwingt viele Menschen zur Flucht. Wir leben in einer Welt, in der Länder sich auf Kosten von anderen Ländern bereichern, diese ausbeuten und auf dem Nacken der Zivilbevölkerung geopolitische Kriege führen.
Wie schaffen Sie es, angesichts dieser Ausgangslage nicht zynisch zu werden?
Das schaffe ich nicht. Von einem Systemwandel sind wir weit entfernt. Aber ich halte an den kleinen Dingen fest, die wir tun können. Und ich schaue gut zu mir selbst. Gerade im Aktivismus ist man täglich mit viel Elend und Leid konfrontiert. Viele Menschen, die humanitäre Hilfe leisten, haben irgendwann ein Burn-out. Wenn ich die Welt nicht mehr händeln kann, dann zwinge ich mich ganz banal zu mehr administrativen Aufgaben, statt im Feld zu sein. Distanz schaffen ist wichtig, so weh es auch tut.
Sepinud Poorghadiri
Journalistin bei Tagesanzeiger