MEDIA: Watson – Interview: «Angeheizt durch Politiker, machen Bürger Jagd auf Asylsuchende»»
Das folgende Experteninterview wurde in der Onlineausgabe (September 2023) von WATSON publiziert. Online findet man den Originalartikel und das Interview hier.
Griechenland: «Angeheizt durch Politiker, machen Bürger Jagd auf Asylsuchende»
Von Chantal Stäubli
Sie befinden sich in Athen. Wie stark ist die Hauptstadt von Extremwetterbedingungen betroffen?
Liska Bernet: Extremwetterbedingungen haben auch Athen jeweils fest im Griff. Fast jeden Sommer steigen Rauchwolken am Himmel auf. Vor drei Jahren hatten wir gar Asche auf unserem Balkon. Die Brände kommen immer wieder vor – allerdings nicht so extrem wie in diesem Jahr. Anfang des Monats kam es auch hier zu starken Überschwemmungen. Ganze Strassen sind überflutet. Das Wasser kann bei Starkregen nirgends ablaufen, die Stadt ist schlicht nicht dafür ausgerichtet. Viele Menschen können ihre Häuser nicht mehr verlassen oder haben ihr Hab und Gut verloren.
Die Waldbrände in diesem Sommer haben eine Fläche grösser als New York City zerstört. 90 Prozent dieser Fläche liegt in der Evros-Region, in der Grenzregion zwischen Griechenland und der Türkei. Der Ort ist ein Hotspot für Asylsuchende. 20 verkohlte Leichen sind in den Wäldern dieser Region aufgefunden worden, darunter zwei Kinder. Es handelte sich um Asylsuchende, die sich nicht trauten, sich in Sicherheit zu begeben.
Warum?
Die Menschen haben sich tief im Wald versteckt, weil sie Angst davor hatten, abgeschoben zu werden. Die Region ist bekannt für illegale Pushbacks. Dabei fängt die griechische Polizei und das Militär Asylsuchende auf, um sie zurück in die Türkei zu schicken, damit sie in Europa kein Asylgesuch stellen können. Die Pushback-Aktionen finden beinahe täglich im Geheimen statt und sind meist mit sehr viel Gewalt verbunden. Dies führt dazu, dass sich Menschen in immer lebensbedrohlichere Situationen begeben müssen, um Asyl beantragen zu können. Im Falle der Todesfälle aufgrund der Waldbrände haben sich die Menschen wohl nicht getraut – aus Angst vor den rechtswidrigen Pushbacks – Hilfe im nächsten Dorf zu suchen.
Gleichzeitig sind Asylsuchende – ohne jegliche Beweise – der Brandstiftung beschuldigt worden, wie lokale Medien berichteten.
Die Regierung wird stark kritisiert, zu wenig in die Infrastruktur investiert zu haben, um die Brände zu bekämpfen. Die Warnungen erfolgten schon Tage vor dem Ausbruch des Feuers. Um von systemischen und politischen Fehlern abzulenken, werden Asylsuchende immer wieder zum Sündenbock gemacht. Dies führt zu besorgniserregenden Entwicklungen: Angeheizt durch Aufrufe von Politiker:innen machten Bürger:innen Jagd auf Asylsuchende, um sie zu fangen und schliesslich aus dem Land zu verweisen. Videos in den sozialen Medien zeigen, wie Asylsuchende gefangen und teils gefoltert wurden. Dies, obwohl durch die Regierung bestätigt wurde, dass die Brände mit grosser Wahrscheinlichkeit durch Blitze verursacht wurden.
Schreckt diese Art der Selbstjustiz sowie die Extremwetterbedingungen Schutzsuchende nicht noch mehr davon ab, nach Griechenland zu migrieren?
Nein. Extremwetterbedingungen, Gefahrensituationen und Todesfälle halten Asylsuchende nicht davon ab. Im Gegenteil: Menschen wählen immer gefährlichere Routen, um ihr Recht auf Asyl wahrzunehmen. Dies, weil die Grenzen immer stärker überwacht werden und das Grenzregime in Europa in den letzten fünf Jahren massiv ausgebaut wurde. Dies zeigt, wie verzweifelt diese Leute sind. Niemand würde sein Leben und jenes seiner Familie riskieren, wenn man sich nicht in einer dermassen aussichtslosen Situation befände.
Welche Auswirkungen haben die extremen Wetterbedingungen für die Menschen, die in Flüchtlingscamps leben? Sind sie dem Wetter schutzlos ausgeliefert?
Wir unterstützen Menschen, die im staatlichen Camp leben, darunter das Camp in Kos, wo rund 2000 Menschen untergebracht sind. Dabei handelt es sich um ein Hochsicherheitscamp mit doppeltem Stacheldraht und Überwachungssystem. Die Menschen leben dort in sogenannten Isoboxen. Darin befinden sich Hochbetten sowie ein Badezimmer für bis zu 12 Menschen. Die Infrastruktur ist in den meisten Camps sehr schlecht. Im Sommer erhalten wir immer wieder Meldungen, dass die Klimaanlagen nicht funktionieren. Bei Temperaturen von bis zu 40 Grad kann dies lebensbedrohlich sein. Schattenplätze sowie Raum, um sich bewegen zu können gibt es in den Camps ohnehin nicht, die Boxen reihen sich aneinander und liegen mitten im Nirgendwo. Weil die Einrichtungen nicht richtig gebaut wurden, kommt es bei Regen immer wieder zu Überschwemmungen oder Stromausfällen. Ohnehin sind die Grundbedürfnisse in den Camps nicht gedeckt. Den Menschen wird weder ein Kissen, noch eine Decke oder Putzmaterial zur Verfügung gestellt.
Wie macht sich das Extremwetter bei Ihrer Arbeit bemerkbar?
Das ist sehr unterschiedlich. In unserem Center in Athen haben wir eine Klimaanlage. Viele Frauen und Kinder verbringen im Sommer den ganzen Tag bei uns, um sich abzukühlen. Es fällt ihnen jeweils schwer, das Zentrum in der Nacht zu verlassen, weil sie aufgrund der Hitze nicht schlafen und sich keine eigene Klimaanlage leisten können. Dasselbe erleben wir auch im Winter. Da kommen die Menschen zu uns, um sich aufwärmen zu können. Ausserdem erschweren Extremwetterbedingungen wie Hitze und Überschwemmungen unsere Unterstützungsarbeit. Unabhängige Nichtregierungsorganisationen haben keinen Zugriff mehr zu den abgelegenen Camps. Geflüchtete müssen sich selbst Unterstützung suchen.
Wie muss man sich das vorstellen?
Die Geflüchteten werden in den Aufnahmezentren untergebracht, bis ihr Asylgesuch durchlaufen ist. Das Verfahren kann Monate dauern, aber auch nur Wochen. Doch jetzt, wo die Lager dermassen überfüllt sind, nimmt dieser Prozess einige Monate in Anspruch. In den staatlich betriebenen Camps in den Hotspotgebieten Samos, Lesbos, Kos, Chios und Leros erhalten sie keine Unterstützung. Ausserhalb der Camps befinden dich die NGOs, die Unterstützung anbieten – unter anderem mit rechtlicher Hilfe, medizinischer Versorgung oder ganz grundlegende Dinge wie Sprachkurse, Integrationsunterstützung. In Kos, wo wir die Menschen unterstützen, müssen die Asylsuchenden einen Bus nehmen, um uns zu erreichen. Die Hin- und Rückfahrt kostet fünf Euro. Eine geflüchtete Person erhält während dem Asylverfahren im Monat 75 Euro. Das bedeutet auch, dass sich die Menschen bei Extremhitze nicht leisten können, sich ständig bei uns abzukühlen. Sobald die Menschen einen positiven Bescheid für ein Asylgesuch erhalten, verlieren die Menschen ihren Schlafplatz – und auch die finanzielle Unterstützung, um ihre grundlegenden Bedürfnisse zu decken.
Sind Asylsuchende auch von den derzeitigen Überschwemmungen betroffen?
In den überfluteten Regionen leben nicht sehr viele Asylsuchende. Dennoch sind sie indirekt von den Folgen betroffen. Ein Flüchtlingscamp soll nun evakuiert werden, damit die lokale Bevölkerung, die ihre Häuser aufgrund der Überschwemmungen verloren hat, dort unterkommen kann. Die Menschen haben grosse Angst davor, verlegt und von ihren Familien getrennt zu werden.
Chantal Stäubli
Journalistin bei WATSON