MEDIA: Neue Zürcher Zeitung – Auf Kos sind die Touristen zurück und die Flüchtlinge noch da
Der folgende Beitrag wurde auf Neue Zürcher Zeitung im September publiziert.

Kos erfreut sich grosser Beliebtheit bei Touristen. An den Stränden, wie hier in Kamari, scheint die Migrationsfrage weit weg. Ralf Adler / Imago
ELENA PANAGIOTIDIS, KOS
Am Rande eines Beachvolleyball-Felds am Strand von Kos-Stadt sitzt Nabil und schaut auf dieTouristen, die im Meer baden. Er war letztmals vor zehn Jahren im Wasser. Von der türkischen Küste her war er gekommen,sie liegt nur sechs Kilometer entfernt. Zusammen mit vier anderen jungen Männern wollte er nach Europa schwimmen. «Wir starteten zusammen, wir sagten, wir halten uns aneinander, damit keiner verlorengeht.» Doch bereits nach kurzer Zeit wurden sie durch die Wellen auseinandergerissen. Er und zwei Freunde kamen nach rund sechs Stunden lebend an, zwei wurden in den Folgetagen tot an Land gespült. «Seitdem bin ich nie mehr ins Meer gegangen»,sagt Nabil, der seinen richtigen Namen nicht öffentlich machen möchte.
Container in Reih und Glied
Nabil und seine Freunde waren nicht die Einzigen, die dieses Risiko auf sich nahmen. Im Jahr 2015 drängten Hunderttausende von Menschen über die ostägäischen Inseln in die EU. Allein auf Kos kamen laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) bis September 2015 rund 31 000 Migranten an, für das ganze Jahr gehen manche Quellen von bis zu 50 000 Ankünften auf Kos aus. Die Flüchtlinge strandeten neben verdutzten Touristen oder wurden von einheimischen Fischern aus dem Meer gerettet.
Für manche endete die Odyssee auf dem muslimischen Friedhof von Kos am Rande der Stadt. Dort zeigt ein Friedhofsmitarbeiter auf eine Reihe einfacher Gräber: «Ich erinnere mich an 2015, als wäre es gestern gewesen»,sagt er. «Einmal brachten sie uns sechs Tote an einem Tag. Ein anderes Mal Geschwister, die sich im Tod noch umarmten.» Heute erinnert wenig an die dramatischen Szenen, die sich vor zehn Jahren abspielten. Damals campierten die Flüchtlinge am Hafen von Kos-Stadt, in Parks und leerstehenden Gebäuden. Vor allem Pauschaltouristen blieben weg. Heute brechen jeden Morgen von Kos-Stadt Dutzende von Partyschiffen mit Touristen zu Tagestouren zu den Nachbarinseln auf. In den Gassen der Altstadt flanieren Menschen aus aller Welt, an den Stränden reihen sich Bars und Liegen kilometerweit aneinander.
Mit 1,24 Millionen Euro Umsatz pro Unterkunft lag Kos 2024 landesweit an der Spitze. Das freut den Bürgermeister der Insel. 2015 und in den Jahren danach habe es sehr schwierige Momente gegeben, die Touristenzahlen seien stark zurückgegangen. «Doch das ist vorbei», sagt Theodosis Nikitaras. «Nun müssen wir das Gleichgewicht halten zwischen Tourismus und Flüchtlingsfrage.»
Tatsächlich bemerken die wenigsten Besucher, dass es auf Kos noch immer viele Migranten gibt. Laut den jüngsten verfügbaren Daten des UNHCR waren im Juni rund 1100 Flüchtlinge auf der Insel registriert. Die meisten von ihnen leben in Pyli, etwa 15 Minuten mit dem Auto von Kos-Stadt entfernt. Pyli liegt am Fuss des Dikeos-Gebirges.Touristen knattern auf Quads durch die Hauptstrasse des Ortes, um an die Strände im Südwesten der Insel zu fahren. Nur wenige halten an, um die antike Wasserquelle mit Brunnenanlage zu bestaunen oder in einer Taverne zu essen.
Weitab der Hauptstrasse, am Dorfrand,stehen Dutzende von weissen Containern in Reih und Glied. Schatten hat es nirgends, einziger Farbtupfer ist eine Rutsche in der prallen Sonne. Das 90 Hektaren grosse Areal ist von Stacheldraht und Wachtürmen umgeben. Unbegleitete Minderjährige und Abzuschiebende dürfen das Camp nicht verlassen, alle anderen nur eingeschränkt. Das Lager wurde im November 2021 eröffnet. Finanziert wurde das sogenannte Closed Controlled Access Center von der EU. Ausgelegt ist es für knapp 3000 Personen. Im vergangenen Jahr kamen allerdings mehr als 15 000 Menschen auf Kos an, so dass das Camp zeitweise deutlich überbelegt war. Heute ist die Situation entspannter: Das UNHCR zählte im Sommer rund 800 Personen im Lager von Kos. Auch vor Ort bestätigen Mitarbeiter, dass in diesem Jahr viel weniger Migranten auf Kos ankämen.
Die Flüchtlingsunterkunft sorgt in Pyli immer wieder für Spannungen. Ein lokaler Unternehmer beschwert sich, dass er durch den Bau des Lagers Umsatzeinbussen gehabt habe. «Du siehst doch selbst, was hier los ist», sagt er und zeigt auf drei junge Migranten, die über die lange Hauptstrasse des Dorfes gehen. Die Häuser hätten an Wert verloren, viele stünden leer, weil die Besitzer weggezogen seien. In sein Haus sei bereits zwei Mal eingebrochen worden. Nun hat er sich Hunde angeschafft, die sein Grundstück bewachen. Zudem fürchtet er eine schleichende Islamisierung. Er glaubt, dass er für einen grossen Teil der Dorfbewohner spricht.
Desolate Zustände
Vor Diebstahl, Gewalt, Vandalismus warnt auch ein Schild am Eingang zum Friedhof von Pyli. Auf Englisch, Griechisch und Arabisch werden hohe Geldstrafen angedroht. Bürgermeister Nikitaras hätte das Camp lieber an einem anderen Ort gesehen. Nun, wo es da sei, müsse man das Beste daraus machen. Was es brauche, sei eine grössere Polizeipräsenz.
In den Abendstunden füllt sich das Dorf. Afghanische Familien mit mehreren Kindern, Paare aus Eritrea, Grüppchen syrischer Männer, sie füllen die Hauptstrasse, an der sich das Dorf entlangzieht, gehen in die Supermärkte, um Chips, Zigaretten oder Kekse zu kaufen, oder essen eine Poulet-Gyros-Pita am Fast-Food-Stand. Eine dreiköpfige Familie ist bereit, ihre Geschichte zu erzählen. Im Juli kamen sie im Schlauchboot aus der Türkei: neun Stunden auf See, das Kind erbrach sich immer wieder. Die lebensgefährliche Überfahrt kostete sie 6000 Euro – statt 20 Minuten und 20 Euro auf der Fähre von Bodrum nach Kos.
Nun wohnen sie im Camp.Vater und Tochter wurden als Palästinenser sofort als Flüchtlinge anerkannt,sie dürfen das Lager verlassen. Die Mutter, auch Palästinenserin, aber mit jordanischem Pass, muss als Asylbewerberin dagegen dortbleiben. Der Vater ist Marketing- und Vertriebsmanager, er spricht akzentfrei Englisch, hat in Saudiarabien für internationale Firmen gearbeitet, bis plötzlich sein Arbeitsvisum nicht verlängert wurde – weil er Palästinenser ist. In Jordanien, der Heimat seiner Frau, bekamen er und dieTochter keine Papiere, in Libanon wollte man ihn für die Lager der Fatah oder der Hamas anwerben – für ihn keine Option. Also die Türkei. Auch dort sahen die Eltern keine Zukunft. Daher die weitere Odyssee nach Griechenland – mit einem Ziel: der Tochter die bestmögliche Bildung zu ermöglichen.
Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. Befragt nach den Zuständen im Camp, zeigt die Familie Videoaufnahmen. Die Sanitäranlagen sind verdreckt, aus kaputten Armaturen läuft kein Wasser, viele Toiletten haben nicht einmal eine Tür. Kochen dürfen die Bewohner des Camps nicht. Einmal pro Tag bekommen sie drei Mahlzeiten gleichzeitig ausgeliefert, die von einem Catering-Service in Athen geliefert werden. Das Essen sei nicht geniessbar, oft undefinierbar. Nicht einmal die Katzen hätten davon probieren wollen, sagt der Vater. Ein griechischer Mitarbeiter des Camps, der nur anonym sprechen will, bestätigt die desolaten Zustände. «Es gibt Kakerlaken und Schimmel», sagt er, und viele Kollegen benähmen sich respektlos gegenüber den Bewohnern.
Von der miserablen Versorgung profitieren die kleinen Supermärkte in Pyli. Einige haben arabische Produkte in ihr Sortiment aufgenommen. Allerdings ist es verboten, Konserven in das Lager zu bringen – die Bewohner müssen den Inhalt vorher in Tupperware umfüllen. Die strikten Sicherheitsregeln verbieten den Bewohnern Metallgegenstände aller Art.
«Ti einai, agapi mou?» – «Was ist los, mein Lieber?» Das fragt eine griechische Ladenbesitzerin gerade einen Kunden aus Eritrea, der etwas von ihr wissen möchte. Mit Kerzen, Feuerzeug und Geldscheinen steht er da und sagt, ihm sei an der Kasse zu wenig Wechselgeld gegeben worden. Die Ladenbesitzerin sieht die Dinge gelassen: «Ich habe kein Problem mit den Flüchtlingen. Sie stören nicht. Sie kommen und reisen weiter.Wir Griechen sind doch auch in alle Welt gegangen, um Arbeit zu finden.»
Arbeit gibt es auch auf Kos. An der Bushaltestelle vor dem Lager kleben Aushänge verschiedener Hotels, die Köche, Reinigungskräfte und Rezeptionisten suchen. Bürgermeister Nikitaras zeigt sich offen: Wer als Flüchtling anerkannt sei und sich integriere, solle arbeiten dürfen.Er verweist aufspezielle Veranstaltungen, bei denen Unternehmen ins Camp kommen und mit Flüchtlingen zusammengebracht werden, die für die Stelle passen könnten. Doch selbst für einfache Jobs gibt es viele Hürden. Der Vater der dreiköpfigen Familie erzählt, dass er schon zwei Angebote gehabt habe. Doch für den Job als Rezeptionist fährt der Bus am Morgen zu spät los; bei der Arbeit als Autowäscher für einen Verleih, der zu Fuss in einer Stunde zu erreichen wäre, würde die Abendschicht länger dauern, als das Camp geöffnet hat. Bis 21 Uhr müssen die Bewohner wieder im Lager sein.
Griechenland fährt eine harte Linie im Kampf gegen die irreguläre Migration. Bei seinem Besuch im Lager von Pyli Ende August erklärte der Migrationsminister Thanos Plevris, das Land sei offen für Schutzsuchende mit Anspruch auf Asyl, werde aber illegalen Einreisen mit Härte begegnen. Anfang September beschloss das Parlament ein Gesetz, das abgelehnte Asylbewerber strenger bestraft:Wer aus als sicher geltenden Drittstaaten kommt, soll künftig schneller abgeschoben oder für bis zu 24 Monate inhaftiert werden – zusätzlich drohen Geldstrafen von bis zu 10 000 Euro.
Hürden – und grosse Solidarität
Diese Härte geht Hand in Hand mit einem anderen Befund: Auch dort, wo Arbeitskräfte händeringend gesucht werden, fehlen Integrationsprogramme. Politisch scheint der Wille zu fehlen, anerkannten Geflüchteten längerfristige Perspektiven zu eröffnen – selbst jenen, die bereits anerkannt sind und arbeiten dürften. Wer das Camp verlässt, steht ohne staatliche Unterstützung da.
Die wenigen NGO vor Ort füllen diese Lücke. In Kos-Stadt betreibt die Zürcher NGO Glocal Roots einenTreffpunkt namens «The Hub», wo Flüchtlinge mit Kaffee, Kleiderspenden und Hygieneartikeln versorgt werden. Die Projektleiterin Sara Ayouni Calvo ist seit bald drei Jahren auf der Insel. Die Spanierin zählt auf, vor welchen Hürden die Flüchtlinge stehen: «Wohnungen sind kaum zu finden.Wer anerkannt ist, muss allein durchs System – Bankkonto,Krankenkasse,Mietvertrag. Ohne Sprache fast unmöglich.» Der Mangel an Übersetzern sei ein schwerwiegendes Problem. «The Hub» hat bisweilen schon als Übernachtungsstätte fungiert, um Migranten vor der Obdachlosigkeit zu bewahren.
Ayouni Calvo sieht aber auch eine grosse Solidarität, auch von den Einheimischen.Vor kurzem hätten alle zusammengelegt, damit sich ein anerkannter Flüchtling ein Fährticket für die Überfahrt zum Festland habe leisten können. Nachbarn bringen immer wieder Kleiderspenden. Doch eine dauerhafte Perspektive auf der Insel ist schwer zu finden. Ende Oktober endet die Tourismussaison, Hotels und Restaurants schliessen. Fünf Monate lang gibt es kaum Arbeit.
Nabil, der vor zehn Jahren nach Europa schwamm, kennt diese Unsicherheit. Er arbeitete als Koch für verschiedene Hotels. Im Winter will er auf Kreta jobben, wo die Saison länger dauert. Er träumt davon, auf Kos eine eigene Konditorei zu eröffnen. Die Sonne geht unter, die letzten Touristen steigen aus demWasser.Nabil muss los,seine Schicht in einem Restaurant fängt bald an. Er wirft noch einmal einen Blick auf das Meer und die Lichter der nahen türkischen Küste – man sieht sie deutlich. Für die einen ist es Ferienidyll, für die anderen ein Ort, der über Leben und Tod entschieden hat.